THE SOPHOMorE 24 | Als Charles Darwin 1831 seine fünfjährige Schiffsreise auf der Beagle antrat, die letztlich die Grundlage für seine Forschungsergebnisse in Bezug auf die Entstehung der Arten darstell- te, hatte er es noch leicht: Er beobachtete etliche Tierarten und beschrieb deren Verwandtschafts- verhältnisse einfach anhand der Ähnlichkeiten, die er sehen konnte. Tiere, die sich ähnlich se- hen, müssen auch eng verwandt sein – das dach- te er zumindest. Und so überschrieb er auch den ersten Evolutionsbaum, den er in sein Notizbuch kritzelte, mit den Worten „I think“ – denn wenn man nachdenkt, muss Evolution so in etwa statt- gefunden haben. Doch das, was zunächst einfach erscheint, ist leider zu vereinfachend, um detail- lierte Fragen zu beantworten. Denn wie will man allein an äußerlichen Ähnlichkeiten erkennen, wann genau beispielsweise der letzte gemeinsa- me Vorfahre von Mensch und Schimpanse gelebt hat? Wie kann man die Entwicklung des Grippe- virus für die nächste Grippesaison vorhersagen, damit man den Impfstoff rechtzeitig produzieren kann? Wie entwickeln sich Antibiotikaresisten- zen? Das sind zwar alles Fragen mit Bezug zur Evolution; deren Antworten kann man aber nicht durch reines Beobachten der Unterschiede verschiedener Spezies finden. Wer solche Fragen beantworten will, kommt heutzutage nicht um- hin, sich mit DNA, RNA und Proteinen zu be- schäftigen. Dumm nur, dass allein der Mensch schätzungsweise 23.000 Gene besitzt – die will und kann keiner mehr von Hand auswerten. Dafür braucht man mathematische Modelle und Methoden, wie die Biomathematik sie liefert. Doch mit der Biomathematik ist das so eine Sa- che. „Biomathe – was ist das? Ach, du meinst, Bio und Mathe, vielleicht auf Lehramt? Oder Mathe mit Nebenfach Biologie?“ Mit solchen und ähn- lichen Fragen sind unsere Studenten oft kon- frontiert. Dabei ist die Biomathematik einfach das Forschungsgebiet, das sich damit befasst, wie man biologische Fragen mit mathematischen Lösungsansätzen beantworten kann – so wie die Wirtschaftsmathematik versucht, wirtschaftswis- senschaftliche Probleme mathematisch zu lösen. Somit unterscheidet sich eben ein Studium der Biomathematik auch fundamental von einem Studium der Mathematik mit Nebenfach Biolo- gie, denn wenn man zwei Fächer studiert, blei- ben diese meist relativ unabhängig voneinander und ohne sichtbaren Zusammenhang. Bei uns in Greifswald wird den Studenten aber bereits im Bachelorstudium die Möglichkeit geboten, beide Fächer auf universitärem Niveau zu verknüpfen – und das ist deutschlandweit einmalig. Einmalig? Okay, das erklärt, warum viele Leute das Fach nicht kennen. Trotzdem, einmalig – das klingt ja erst mal super. Oder doch nicht? Was ist, wenn der zukünftige Chef das Fach nicht kennt? Und was kann man damit denn überhaupt an- fangen? Jobanzeigen für Biomathematiker sieht man doch wohl nie, oder? Wird man als Bioma- thematiker also arbeitslos? Dass solche oder ähnliche Zweifel unbegrün- det sind, zeigen unsere Absolventen-Statistiken. Denn es stimmt zwar, dass die Anzeigen, in de- nen explizit ein Biomathematiker gesucht wird, rar gesät sind – die Einsatzgebiete für Biomathe- matiker sind es aber nicht: die möglichen Tätig- keitsfelder sind vielfältig, sei es die angewandte Arbeit in biologischen Laboratorien, die statisti- sche Datenanalyse, das Implementieren von Pro- grammen als Bioinformatiker oder aber das the- oretische Entwickeln mathematischer Modelle – ein Biomathematiker hat für all das das nötige Handwerkszeug erlernt und kann sich dann in die Richtung spezialisieren, die ihm am meisten liegt. Unsere Absolventen arbeiten zum Beispiel in Kliniken, denn auch die Medizin braucht un- ser Knowhow. Wenn Sie zum Beispiel einmal in die missliche Lage kommen, einen Tumor zu ha- ben, werden Sie sehr dankbar sein, wenn der so bestrahlt wird, dass das Tumorgewebe wirklich abstirbt, das umliegende Gewebe aber unbescha- det bleibt. Hierbei handelt es sich um ein ganz typisches Problem aus dem Bereich der mathematischen Optimierung. Oder wenn es um neue Medika- mente geht, die sich zum Beispiel auf den Hor- monspiegel in menschlichen Zellen auswirken. Bevor man die mit teuren Tierversuchen oder gar am Menschen testet, müssen erst mal Simu- lationen am Computer zeigen, wie die Kettenre- aktion aussieht, die das Medikament in der Zelle auslösen wird – denn wenn es da schon anders läuft als geplant, ist das kein Medikament, das man Menschen geben sollte. Doch der Compu- ter benötigt hierfür eben ein mathematisches Modell, das irgendwer entwickeln muss. Und haben Sie schon mal von einem Vaterschaftstest gehört, der die Vaterschaft zu 99,9998% beschei- nigt? Wie kommt man denn auf diese Zahl, und warum bekommt man hier keine Sicherheit von 100%? Um das zu verstehen, müssen Sie das ma- thematische Modell verstehen – die Entwickler dieser Tests kamen also nicht umhin, sich mit Biomathematik zu befassen. Ich könnte noch etliche Beispiele aufzählen, doch die genannten reichen schon, um zu sehen, dass die Biomathematik viel häufiger gebraucht wird, als den meisten bewusst ist, und dass die meisten unserer Absolventen daher nur wenige Bewerbungen schreiben müssen, ehe sie einen Arbeitsplatz finden. Und während es viele Bio- logen und auch relativ viele Mathematiker gibt, findet ein Arbeitgeber nur schwer einen Vermitt- ler zwischen diesen beiden Positionen, der sozu- sagen beide Sprachen spricht – ein Biomathema- tiker kommt da sehr gelegen. Gut, denken Sie jetzt vielleicht, man findet also einen Job, zumindest, wenn man nicht darauf wartet, dass in der Anzeige von einem Bioma- thematiker die Rede ist, und wenn man sich selbstbewusst bewirbt. Aber 23.000 Gene? Die Auswertung solcher Datenmengen klingt doch sehr nach Statistik. Und Computersimulationen? Das klingt doch stark nach Informatik. Mathe- matische Modelle? Das klingt doch sehr nach theoretischer Mathematik. Und dann auch noch die Biologie! Selbst wenn Sie die Anwendungsge- biete spannend finden, wette ich, dass Sie min- destens bei einem dieser Punkte sagen: Nein, das will ich nicht. Programmieren – nein danke. Oder Statistik – bloß nicht. Und das ist auch lo- gisch: Wenn man ein breites Grundwissen ver- mittelt bekommt, ist natürlich immer etwas da- bei, das einem nicht so gut gefällt. Das ist sicher in jedem Studiengang so. Aber im Laufe Ihres Studiums der Biomathematik werden Sie mehr und mehr zum Spezialisten und genießen dann die Wahlfreiheit, in welche Richtung Sie sich letztlich orientieren wollen – und Möglichkeiten gibt es da so viele wie es eben Tätigkeitsfelder für Biomathematiker gibt. Wenn Sie auf Darwins Spuren wandeln wollen, müssen Sie nur Ihr Abitur und Ihre Motivation mitbringen. Es gibt keinen NC und spezielle Vor- kenntnisse sind nicht erforderlich – das, was Sie bei uns können müssen, bringen wir Ihnen bei. Auch Quereinsteiger, die zum Beispiel aus der Mathematik oder der Biologie zu uns wechseln wollen, sind uns willkommen. Charles Darwin wäre sicher froh gewesen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte zu lernen, wie man biologische Fragen systematisch mit den Mitteln der Mathematik beantworten kann – nicht zuletzt auch, weil es ihm die fünfjährige Schiffsreise erspart hätte. Denn was nach einem langen Urlaub mit ein paar Vogelbeobachtungen klingt, war in Wahrheit mit harter Arbeit und körperlichen Strapazen verbunden, zumal Dar- win schwer seekrank war. Dann doch lieber ein paar Formeln! Mareike Fischer Juniorprofessorin für Diskrete Biomathematik, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Auf den Spuren Darwins Bildung & Karriere